Therapie

Zahn-OPs bei Nebenniereninsuffizienz: Risiken und Schutz

Patientinnen und Patienten mit Nebenniereninsuffizienz (z. B. Morbus Addison oder sekundäre Formen) benötigen lebenslange Glukokortikoid-Substitution. Bei Stress-Situationen, zu denen auch zahnärztliche Eingriffe zählen können, steigt der Bedarf an Kortisol deutlich — und bei unzureichender Anpassung droht eine lebensbedrohliche Addison-Krise. „Bei einer Nebenniereninsuffizienz kann eine zahnärztliche Behandlung hochriskant sein.“

Warum Zahn-OPs ein Problem sein können

Kortisol ist ein wesentlicher Stresshormon-Mediator: Es stabilisiert Kreislauf und Stoffwechsel unter Belastung. Menschen mit Nebenniereninsuffizienz können diese zusätzliche körpereigene Kortisol-Antwort nicht leisten, wenn die Substitution nicht angepasst wird. Als Folge können Hypotonie, schwere Schwäche, Übelkeit, Erbrechen und Bewusstseinsstörungen auftreten — Symptome einer Addison-Krise, die intensivmedizinisch behandelt werden muss. In schweren Fällen wird eine hochdosierte i.v.-Substitution empfohlen (z. B. 200 mg Hydrocortison/24 h).

„Jede Nebennierenkrise ist ein Notfall, der sofortige intensivmedizinische Hilfe erfordert.“

Die potenzielle Auslösung einer Krise durch zahnärztliche Eingriffe ist nicht nur theoretisch: Fallberichte und Patientenbefragungen zeigen, dass auch vergleichsweise kleine Interventionen oder starke Zahnarztangst Auslöser sein können. Deshalb ist die zahnärztliche Versorgung bei Betroffenen immer ein interdisziplinäres Thema.

Risikoabschätzung: Welche Eingriffe sind kritisch?

In der Praxis unterscheidet man grob nach dem Stresslevel des Eingriffs:

  • Geringe Belastung: zahnärztliche Kontrolluntersuchungen, professionelle Zahnreinigung, einfache Füllungen.
  • Mittlere Belastung: Wurzelbehandlungen, einfache Extraktionen, lokale Eingriffe mit längerem Aufwand.
  • Hohe Belastung: komplexe Extraktionen, orale Chirurgie unter Sedierung oder Vollnarkose, multiple Eingriffe oder Patienten mit zusätzlich schwerer Komorbidität.

Für die Einordnung sind sowohl der Umfang des Eingriffs als auch psychosozialer Stress (z. B. ausgeprägte Zahnarztangst) relevant — beide Faktoren können den Kortisolbedarf erhöhen.

Vorbereitung: Was Patient und Praxis tun müssen

Vor jedem zahnärztlichen Eingriff sollte eine klare, dokumentierte Absprache stattfinden. Wichtige Punkte:

  • Der Patient informiert die Praxis aktiv über die Nebenniereninsuffizienz und bringt seinen Notfallausweis/-pass und — wenn vorhanden — das Hydrocortison-Notfallset mit.
  • Idealer Zeitpunkt: Morgentermine sind zu bevorzugen (physiologische Substitutionsspitzen).
  • Bei ernsthafter Angst überdenken: Sedierung, kurze Termine, präzise Schmerzplanung und Beruhigungsmaßnahmen reduzieren Stress.
  • Interdisziplinäre Kommunikation: Bei unsicherer Dosisanpassung Befund und Vorschlag mit dem behandelnden Endokrinologen abstimmen.

Steroidergänzung (Stress-Dosing): Praxisorientierte Empfehlungen

Es existieren mehrere praxisorientierte Empfehlungen — nicht alle sind identisch; eine individuelle Entscheidung ist nötig. Generell gilt: konservativ anpassen, eher großzügig substituieren beim Verdacht auf erhöhten Bedarf. Die folgenden Richtwerte basieren auf Leitlinien und klinischen Empfehlungen:

Kleine Eingriffe

Bei Routineeingriffen ohne nennenswerten Stressbedarf genügen oft keine zusätzlichen i.v.-Gaben. Viele Quellen empfehlen jedoch, die übliche Tagesdosis oral zu verdoppeln oder zumindest eine zusätzliche orale Dosis etwa 1 Stunde vor dem Eingriff einzunehmen (z. B. zusätzlich 10 mg Hydrocortison 1 h vor dem Termin), und die erhöhte Dosis für 24 Stunden beizubehalten, bevor zur normalen Erhaltungsdosis zurückgekehrt wird. Diese pragmatische Vorgehensweise findet sich in Patienteninformationen großer Kliniken.

Mittlere Eingriffe

Für mittlere chirurgische Belastung ist eine vorübergehende Erhöhung der oralen Substitution (z. B. Verdopplung der Tagesdosis, Aufteilung auf mehrere Einzeldosen) sinnvoll; einige Empfehlungen nennen zusätzlich eine Einmalgabe 1 Stunde vor Beginn. Bei Unsicherheit ist die Absprache mit dem Endokrinologen ratsam.

Große Eingriffe / Sedierung / Vollnarkose

Bei Eingriffen unter Vollnarkose oder hohem operativen Stress ist parenterale Gabe angezeigt: gängig sind 100 mg Hydrocortison i.v. unmittelbar vor dem Eingriff, gefolgt von z. B. 50 mg alle 6 Stunden (oder kontinuierliche Infusion), bis der Patient wieder oral substituieren kann. In kritischeren Situationen (klinische Krise) werden 200 mg Hydrocortison/24 h empfohlen. Diese Empfehlungen stammen aus endokrinologischen Leitlinien und perioperativen Handreichungen.

Wichtig: Es existieren auch Übersichtsarbeiten, die darauf hinweisen, dass akute Nebennierenkrisen im zahnärztlichen Umfeld selten sind und routinemäßige i.v.-Gaben bei jeder nicht-chirurgischen Zahnbehandlung nicht zwingend angezeigt sind. Deshalb bleibt die individuelle Risikoabschätzung entscheidend.

Notfallmanagement in der Zahnarztpraxis

Die Praxis sollte für den seltenen, aber schweren Fall vorbereitet sein:

  • Schneller Zugriff auf i.m./i.v. Hydrocortison (z. B. 100 mg Spritzen) und Notfallequipment.
  • Bei Verdacht auf Addison-Krise: sofort Hydrocortison i.v. oder i.m. geben, Kreislauf überwachen, Notarzt alarmieren (Notruf 112), Patient beruhigen und in stabiler Seitenlage/oberer Lage betreuen. „Bei Verdacht auf Addison-Krise lieber großzügig Hydrocortison geben – schadet nicht.“
  • Dokumentation der Maßnahme und rasche Übergabe an Rettungsdienst/Krankenhaus mit Hinweis auf Nebenniereninsuffizienz.

Kommunikation, Dokumentation und Patientenbildung

Langfristig senkt gute Information das Risiko von Komplikationen: Patienten sollten stets einen Notfallausweis, eine schriftliche Therapieanweisung und ein Hydrocortison-Notfallset bei sich tragen. Ebenso wichtig ist, dass Zahnarztpraxen proaktiv nachfragen, wenn Vorerkrankungen unbekannt sind. Viele Patientenorganisationen betonen einfache Regeln: im Krankheitsfall Dosis erhöhen, bei schweren Symptomen sofort i.v.-Hydrocortison.

Praktische Checkliste für die zahnärztliche Praxis

  • Beim Erstkontakt: gezielt nach Nebenniereninsuffizienz, laufender Substitution, Notfallausweis fragen.
  • Terminplanung: wenn möglich morgens; kürzere Sitzungen oder Teilbehandlungen erwägen.
  • Vor dem Eingriff: Patient über Stressdosis informieren, ggf. telefonische Abstimmung mit Endokrinologie.
  • Medikamentenvorrat: Hydrocortison für i.m./i.v.-Gabe griffbereit halten.
  • Notfallplan: klare Verantwortlichkeiten, Notfallnummern, und Übergabe an Rettungsdienst.
  • Nachsorge: Schmerzmittel und Übelkeit früh behandeln, erhöhte orale Substitution für 24–48 h beibehalten (falls empfohlen).

Abwägung: Individualität vor Dogma

Die Literatur zeigt keine universelle Einigkeit — Fallberichte, Leitlinien und systematische Reviews finden sich entlang eines Spektrums von „vorsichtig großzügig substituieren“ bis „bei kleinen, nicht-chirurgischen Eingriffen ist routinemäßige parenterale Gabe nicht nötig“. Entscheidend ist daher die individuelle Sicht: Diagnose (primär vs. sekundär), übliche Erhaltungsdosis, Komorbiditäten, Art und Dauer des zahnärztlichen Eingriffs sowie psychisches Stressniveau. Bei Unsicherheit ist der fachärztliche Rat unabdingbar.

Gute Vorbereitung zählt

Zahnärztliche Eingriffe können bei Menschen mit Nebenniereninsuffizienz potenziell lebensbedrohliche Krisen auslösen — auch wenn solche Ereignisse selten bleiben. Gute Vorbereitung (Notfallausweis, Terminplanung, Information), eine individuelle Risikoabschätzung und die Möglichkeit, schnell Hydrocortison parenteral zu geben, sind die Schlüssel, um das Risiko zu minimieren. Interdisziplinäre Abstimmung zwischen Zahnarzt und Endokrinologe sorgt für sichere, patientenzentrierte Entscheidungen. „Erfolg bei der Versorgung dieser Patienten beruht auf Prävention, klarer Kommunikation und schneller Notfallreaktion.“

Quellenhinweis: Die wichtigsten Richtlinien- und Übersichtsquellen sowie aktuelle Patienteninformationen wurden bei der Erstellung dieses Artikels berücksichtigt.

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