Tetanus und Diphtherie: Neue Studien stellen Booster infrage
Die Impfempfehlung, Tetanus- und Diphtherie-Auffrischungen bei Erwachsenen alle zehn Jahre zu verabreichen, gilt lange als Standard in vielen Ländern. Neue Auswertungen und serologische Studien haben diese Praxis jedoch kritisch hinterfragt:
Mehrere Arbeiten kommen zu dem Schluss, dass eine vollständige Grundimmunisierung im Kindesalter bei den meisten Menschen einen langanhaltenden — teilweise lebenslangen — Schutz bieten kann. Diese Debatte berührt nicht nur wissenschaftliche, sondern auch gesundheitspolitische und ökonomische Fragen. In diesem Artikel fassen wir die aktuellen Studienergebnisse zusammen, erklären die biologischen Grundlagen, vergleichen internationale Empfehlungen und skizzieren, welche Gruppen weiterhin Auffrischungen benötigen könnten.
Kurzer Überblick über die Krankheiten und die bisherigen Impfkonzepte
Tetanus (Wundstarrkrampf) und Diphtherie sind bakterielle Erkrankungen mit potenziell schweren Komplikationen: Tetanus verursacht schmerzhafte Muskelkrämpfe und kann tödlich enden, Diphtherie kann zu Atemwegsverschluss, Herzschäden oder Lähmungen führen. Beide Erkrankungen sind durch Impfprogramme in Industriegesellschaften stark zurückgedrängt worden; die Grundimmunisierung (mehrere Dosen im Säuglings- und Kleinkindalter) bildet die Basis des Schutzes. Auf dieser Grundlage empfehlen viele nationale Impfkommissionen regelmäßige Auffrischungen im Erwachsenenalter — typischerweise alle zehn Jahre — um vermeintlich abnehmenden Antikörperspiegeln vorzubeugen.
Was sagen die neuen Auswertungen?
In den letzten Jahren erschienen mehrere Analysen, die unterschiedliche Datenquellen — serologische Studien, Inzidenzdaten und Ländervergleiche — zusammenführen. Eine viel beachtete Untersuchung von Mark Slifka und Kolleg:innen (Datenbasis: 31 Länder, mehrere Millionen Menschen) kommt zu dem Ergebnis, dass es keinen messbaren Unterschied in den Erkrankungszahlen zwischen Ländern gibt, die erwachsene Booster empfehlen, und solchen, die dies nicht tun. Die Autor:innen folgern, dass die Kindheitsgrundimmunisierung für die Mehrheit der Bevölkerung ausreichend Schutz liefert.
„To be clear, this study is pro-vaccine,“
— Mark Slifka, Studienleiter. (Originalzitat; Übersetzung: „Um klarzustellen: Diese Studie ist pro Impfung.“)
Die gleiche Forschungsgruppe schrieb weiter: „Based on our new data, it turns out we were probably overly conservative back in 2016.“ Diese Aussage unterstreicht, dass die Evidenzbasis dynamisch ist und frühere konservative Annahmen inzwischen infrage gestellt werden können.
Serologische Befunde: Wie lange halten Antikörper?
Serologische Studien messen Antikörpertiter in Bevölkerungsstichproben und zeigen vielfach, dass bei vollständig Geimpften noch Jahrzehnte nach der Grundimmunisierung schützende Antikörperspiegel nachweisbar sind. Meta-Analysen und Übersichtsarbeiten berichten für Tetanus eine Abnahme mit einer Halbwertszeit, die sich über Jahre erstreckt (z. B. grob in der Größenordnung von einem Jahrzehnt), für Diphtherie oft noch längere serologische Persistenz. Diese immunologischen Daten stützen die epidemiologischen Befunde, dass klinisch relevante Durchbrüche bei vollständig geimpften Personen selten sind.
Epidemiologie: Wie häufig treten die Erkrankungen heute auf?
Die Inzidenzen von Tetanus und Diphtherie sind in vielen Industrienationen sehr niedrig: Beispielsweise liegt die Tetanus-Inzidenz in den USA bei deutlich unter einem Fall pro zehn Millionen Einwohner und Jahr; Deutschland meldet nur noch sehr wenige Fälle pro Jahr. Solche niedrigen Fallzahlen erschweren statistische Vergleiche, machen aber zugleich deutlich, dass die Konsequenz der Impfprogramme hoch ist. Einige neuere Analysen verweisen darauf, dass Länder mit unterschiedlichen Booster-Strategien — etwa Großbritannien (kein routinemäßiger Booster), Frankreich (längere Intervalle) oder Deutschland (10-Jahres-Intervall) — vergleichbare, sehr niedrige Inzidenzen aufweisen.
Gesundheitspolitische und ökonomische Überlegungen
Die Frage, ob Routine-Booster in der Allgemeinbevölkerung notwendig sind, hat neben medizinischer Relevanz auch wirtschaftliche Konsequenzen. Modellrechnungen und Schätzungen legen nahe, dass durch die Reduktion unnötiger Auffrischimpfungen Millionen bis Milliarden an Gesundheitskosten eingespart werden könnten — ein Argument, das in Gesundheitsökonomie und Politik Gehör findet. Diese Einsparungen müssen jedoch gegen das Risiko abgewogen werden, Vulnerable Gruppen zu übersehen, Surveillance-Lücken zu tolerieren oder das Vertrauen in Impfprogramme zu schwächen.
Internationale Empfehlungen im Vergleich
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bereits 2017 ihre Position aktualisiert und empfiehlt nicht länger allgemeine, routinemäßige Auffrischimpfungen im Erwachsenenalter, sofern eine vollständige Grundimmunisierung vorliegt; stattdessen wird eine zielgerichtete Strategie favorisiert. Demgegenüber halten viele nationale Behörden — darunter die STIKO in Deutschland oder die CDC in den USA — weiterhin an einem 10-Jahres-Intervall fest oder empfehlen eine Auffrischung nach besonderen Expositionen bzw. Verletzungen. Der Richtungswandel in Empfehlungen ist damit nicht einheitlich: WHO-Leitlinien fließen in nationale Konzepte ein, aber nationale Behörden berücksichtigen zusätzlich epidemiologische, organisatorische und rechtliche Aspekte.
Wer sollte weiterhin auffrischen?
Obwohl für die breite Bevölkerung eine Lockerung der Booster-Praxis diskutiert wird, gelten klare Ausnahmen, bei denen Auffrischungen weiterhin empfohlen oder sogar notwendig sind:
- Personen mit unklarem oder nicht vollständigem Impfstatus (Impflücken müssen geschlossen werden).
- Reisende in Gebiete mit erhöhtem Diphtherie-Risiko oder schlechter Gesundheitsversorgung.
- Personen mit hohem Tetanus-Wundrisiko (tiefe, verschmutzte oder systemisch kontaminierte Wunden).
- Schwangere: Schutz des Neugeborenen durch gezielte Tdap-Impfung bleibt wichtig.
Diese Risikogruppen sind in praktisch allen Leitlinien ausdrücklich genannt — hier überwiegt der potenzielle Nutzen gegenüber ökonomischen Erwägungen.
Praktische Empfehlungen für die ärztliche Beratung
Für die Praxis lässt sich derzeit folgendes pragmatisches Vorgehen empfehlen: Ärztinnen und Ärzte sollten den Impfstatus individuell klären, auf eine abgeschlossene Grundimmunisierung achten und gezielt Auffrischungen für Risikogruppen anbieten. Allgemeine, flächendeckende Änderungen der Impfempfehlungen erfordern robuste nationale Entscheidungsprozesse, die sowohl serologische Daten als auch Surveillance-Informationen und sozioökonomische Aspekte berücksichtigen. Aktiv erhaltene Impfregister und serologische Stichprobenstudien erleichtern evidenzbasierte Anpassungen.
Grundimmunisierung als langanhaltender Schutz
Die aktuelle Studienlage legt nahe, dass die Standard-Empfehlung einer Auffrischung gegen Tetanus und Diphtherie alle zehn Jahre für die überwiegende Zahl vollständig geimpfter Erwachsener möglicherweise zu konservativ ist. Serologische Daten und Inzidenzanalyse stützen die Annahme, dass die Grundimmunisierung oft einen langanhaltenden Schutz bietet; die WHO hat diese Evidenz bereits 2017 in ihren Positionen berücksichtigt. Gleichzeitig bleiben bestimmte Gruppen — Personen mit unvollständiger Immunisierung, Schwangere, Reisende und Personen mit hohem Wundrisiko — auf Auffrischungen angewiesen. Eine verantwortliche gesundheitspolitische Anpassung der Empfehlungen müsste daher sorgfältig national abgestimmt werden, Surveillance verstärken und vulnerable Gruppen gezielt schützen.
„Die meisten Erwachsenen bleiben lebenslang geschützt.“
— Kernaussage aktueller Auswertungen (Wortlaut aus zusammenfassender Berichterstattung).
Hinweis: Dieser Text bündelt aktuelle Studienergebnisse und Empfehlungen zum Stand der veröffentlichten Literatur und Leitlinien. Er ersetzt jedoch keine individuelle ärztliche Beratung. Bei Unsicherheit oder bei speziellen Risiken (Reisepläne, alte/chronisch kranke Personen, schwere Wunden) sollte der Impfstatus ärztlich überprüft und gegebenenfalls aufgefrischt werden.