Wachsende Impfskepsis – WHO schlägt Alarm

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Ein beunruhigender Trend

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Kinderhilfswerk UNICEF schlagen Alarm: Die Zahl der Kinder, die niemals eine einzige Impfung erhalten haben, ist auf weltweit 14,3 Millionen angestiegen – das sind 1,4 Millionen mehr als noch vor der Corona-Pandemie im Jahr 2019. Ein Zustand, der nach Ansicht der WHO nicht allein durch strukturelle Herausforderungen erklärbar ist, sondern zunehmend durch eine neue Welle der Impfskepsis genährt wird. WHO-Impfexpertin Kate O’Brien sprach jüngst von einer „extremen Besorgnis“ über die Zunahme von Desinformation und zurückgehender Unterstützung für globale Impfkampagnen.

Diese Entwicklung betrifft nicht nur den globalen Süden. Auch in Europa mehren sich Ausbrüche eigentlich vermeidbarer Infektionskrankheiten wie Masern – mit tödlichen Folgen.

Was bedeutet Impfskepsis?

Impfskepsis beschreibt laut WHO eine Verzögerung oder Ablehnung von Impfungen trotz der Verfügbarkeit entsprechender Angebote. Die Gründe dafür sind vielschichtig: mangelndes Vertrauen in Behörden, Verschwörungserzählungen, religiöse Überzeugungen oder schlichtweg ein Gefühl der Gleichgültigkeit.

Die Corona-Pandemie hat diese Tendenzen in vielen Ländern verstärkt. „Die Pandemie hat ein gefährliches Erbe hinterlassen: ein tiefes Misstrauen gegenüber wissenschaftlicher Evidenz und öffentliche Gesundheitsinstitutionen“, erklärt der Public-Health-Forscher Prof. Martin McKee von der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Dieses Misstrauen werde durch soziale Medien weiter geschürt – und das mit gravierenden Folgen.

Aktuelle Zahlen und dramatische Entwicklungen

Laut dem aktuellen WHO/UNICEF-Report vom Juli 2025 ist die Zahl der sogenannten „Zero-Dose-Kinder“ – also jener, die noch keine einzige Impfung erhalten haben – im Vergleich zu den Jahren vor der Pandemie signifikant gestiegen. Besonders betroffen sind fragile Staaten wie Somalia, Afghanistan, Südsudan und Haiti, in denen Gesundheitsinfrastrukturen entweder zusammengebrochen oder kaum vorhanden sind.

Doch auch in wohlhabenden Ländern zeigt sich ein besorgniserregender Trend. In Großbritannien kam es zuletzt zu einem dramatischen Masernausbruch in Liverpool, bei dem ein Kleinkind ums Leben kam. Die Impfquote für die Kombinationsimpfung gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) lag in der Region zuletzt bei nur 73 Prozent – weit unter dem für Herdenimmunität nötigen Wert von mindestens 95 Prozent. Die britische Gesundheitsbehörde rief Eltern öffentlich dazu auf, ihre Kinder schleunigst impfen zu lassen.

Europaweit wurden laut WHO allein im Jahr 2024 mehr als 148.000 Masernfälle gemeldet – fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor. In Ländern wie Rumänien, Italien oder Österreich grassieren die hochansteckenden Viren wieder verstärkt. Auch Keuchhusten und Diphtherie treten in manchen Regionen vermehrt auf.

WHO warnt eindringlich

Die WHO äußert sich deutlich: „Wir sehen eine gefährliche Kombination aus schrumpfender Entwicklungszusammenarbeit, globaler Unsicherheit und wachsender Desinformation“, so Kate O’Brien. Besonders erschreckend sei, dass selbst bewährte Impfprogramme in Frage gestellt würden – nicht nur gegen COVID-19, sondern auch gegen klassische Kinderkrankheiten. Die WHO fordert Regierungen weltweit auf, entschlossener gegen Falschinformationen vorzugehen und Impfprogramme wieder stärker finanziell zu unterstützen.

Ein weiteres Problem ist laut UNICEF, dass viele Impfkampagnen nach der Pandemie nicht vollständig wieder hochgefahren wurden – oft aus Kostengründen. In Subsahara-Afrika seien besonders mobile Impfteams und Informationsarbeit unterfinanziert. „Ein Versäumnis, das sich bitter rächen könnte“, warnt UNICEF-Programmdirektorin Cecilia Conradi.

Was steckt hinter der Impfskepsis?

Ein Kernfaktor ist die Macht von sozialen Netzwerken. Impfkritische Beiträge erzielen auf Plattformen wie Facebook, Instagram, Telegram oder TikTok deutlich mehr Engagement als sachlich fundierte Informationen. Eine Untersuchung der Universität Stanford ergab, dass sich Falschmeldungen in Bezug auf Impfungen sechsmal schneller verbreiten als korrekte Aussagen.

„Das perfide an Impfskepsis ist, dass sie selten auf einem einzigen Fehlschluss basiert“, so die Medienwissenschaftlerin Dr. Monika Langer. „Es ist ein Narrativ aus misstrauischer Grundhaltung, persönlichen Geschichten und pseudowissenschaftlichen Behauptungen, das sich kaum mehr mit rationalen Argumenten auflösen lässt.“

Zudem spielt politische Einflussnahme eine zunehmend destruktive Rolle. In den USA beispielsweise sorgt der Präsidentschaftskandidat und Impfgegner Robert F. Kennedy Jr. mit seinen Aussagen für große Verunsicherung. Unter seiner Leitung wurden bei der CDC (Centers for Disease Control and Prevention) mehrere Fachleute gegen impfkritische Berater ausgetauscht – mit der Folge, dass sogar Impfkampagnen gegen Polio ins Stocken gerieten.

Fehlende Mittel und mangelnder Zugang

Ein weiterer Faktor ist der Rückgang internationaler Finanzhilfen für Impfprogramme. Viele Geberländer, darunter auch Deutschland und die USA, haben ihre Beiträge zur globalen Impfinitiative Gavi reduziert. Besonders in instabilen Ländern fehlen dadurch Mittel für Kühlketten, Transport und Schulungen medizinischen Personals.

„Es ist erschütternd zu sehen, wie in abgelegenen Regionen Impfstoffe zwar existieren, aber nicht verabreicht werden können – schlicht, weil keine Mittel da sind, um eine Gesundheitshelferin dorthin zu bringen“, berichtet Dr. Babacar Diop, WHO-Regionalkoordinator für Westafrika. „Und währenddessen verbreiten sich über Mobiltelefone Verschwörungserzählungen mit rasender Geschwindigkeit.“

Was tun? Strategien gegen die Impfskepsis

Die WHO setzt auf einen mehrgleisigen Ansatz: Aufklärung, bessere Zugänglichkeit, digitale Gegenstrategien. Eine der Maßnahmen ist die Initiative „Vaccine Safety Net“, ein globales Netzwerk verifizierter Informationsportale zu Impfungen. Auch das Konzept des Prebunking – also das frühzeitige Widerlegen von Desinformationen – wird verstärkt eingesetzt.

In einigen Regionen zeigt die Einbindung lokaler Akteurinnen und Akteure bereits Wirkung. In Ghana etwa konnte eine Aufklärungskampagne unter Beteiligung religiöser Führer die Impfrate gegen Polio in ländlichen Gebieten binnen sechs Monaten um 18 Prozent steigern.

Politisch ist ebenfalls Bewegung notwendig: Die WHO fordert nationale Gesundheitsministerien dazu auf, Impfkampagnen nicht länger in der Kommunikation zu vernachlässigen. Gerade prominente Politiker\:innen müssten ein öffentliches Bekenntnis zu Impfungen abgeben – ohne Zögern, ohne Wenn und Aber.

Ausblick: Rückkehr besiegt geglaubter Krankheiten?

Die Welt steht am Scheideweg: Wird die globale Gemeinschaft entschlossen handeln, könnte eine massive Rückkehr von Masern, Keuchhusten und sogar Polio noch abgewendet werden. Doch ohne koordiniertes Vorgehen droht ein Rückschlag um Jahrzehnte.

„Es gibt keinen technischen Grund, warum Kinder heute noch an Masern sterben sollten“, betont WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus. „Aber es gibt politische und kommunikative Gründe – und diese müssen wir endlich ernst nehmen.“

Langfristig hängt der Erfolg von Impfprogrammen nicht nur von der medizinischen Wirksamkeit der Impfstoffe ab, sondern auch vom Vertrauen der Bevölkerung. Dieses Vertrauen muss mit Konsequenz, Transparenz und Hartnäckigkeit neu aufgebaut werden – weltweit.

Ein globales Risiko für die öffentliche Gesundheit

Die zunehmende Impfskepsis ist mehr als nur ein medizinisches oder soziales Problem – sie ist ein globales Risiko für die öffentliche Gesundheit. Sie entsteht aus einem gefährlichen Zusammenspiel aus Desinformation, politischer Instrumentalisierung, Budgetkürzungen und digitalen Dynamiken. Die WHO warnt daher zu Recht mit Nachdruck. Es braucht koordinierte Aufklärung, politische Verantwortung und die Wiederherstellung vertrauenswürdiger Gesundheitskommunikation, um eine Impfkrise mit globalen Folgen zu verhindern.

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