Cannabis in der Schmerztherapie bei Senioren
In Deutschland nutzen immer mehr ältere Menschen Cannabis zur Linderung chronischer Beschwerden. Besonders Senioren sehen sich zunehmend gezwungen, über Alternativen zur traditionellen Behandlung nachzudenken – auch wegen Nebenwirkungen oder mangelnder Wirkung klassischer Schmerzmittel. Die Tagesschau berichtete am 11. Juni 2025:
„Ein wachsender Anteil älterer Menschen nutzt regelmäßig Cannabis – oft, um Beschwerden zu lindern. Klare medizinische Daten fehlen meist, trotzdem wagen Senioren den Selbstversuch.“
Diese Entwicklung führt zu einem wichtigen Fragenkomplex: Wie wirksam und sicher ist Cannabis bei älteren Patient:innen? Welche Indikationen sind geeignet, welche Risiken bestehen — und wie sieht das rechtliche Umfeld in Deutschland aus?
Wenn das Alter schmerzt
Chronische Schmerzen zählen zu den häufigsten Gesundheitsproblemen älterer Menschen. Arthrose, Polyneuropathie, Rückenschmerzen oder Tumorschmerzen beeinträchtigen Lebensqualität und Mobilität vieler Seniorinnen und Senioren. Klassische Schmerzmittel – vor allem Opioide oder NSAR – zeigen oft Nebenwirkungen oder verlieren langfristig an Wirksamkeit. In diesem Kontext wächst das Interesse an alternativen Therapieansätzen – insbesondere an medizinischem Cannabis. Doch was bringt die Pflanze wirklich im Alter? Und wie sicher ist sie?
Medizinische Wirkung: Was Cannabis im Körper bewirkt
Die schmerzhemmende Wirkung von Cannabis basiert auf den sogenannten Cannabinoiden – insbesondere THC (Tetrahydrocannabinol) und CBD (Cannabidiol). Diese Substanzen docken an das körpereigene Endocannabinoid-System an, das eine wichtige Rolle bei der Schmerzverarbeitung, Entzündungsregulation und Stimmungsmodulation spielt.
Während THC vor allem psychoaktive Effekte auslöst, wirkt CBD entzündungshemmend, angstlösend und krampflösend – ohne berauschende Wirkung. In der Schmerztherapie werden oft Kombinationen beider Wirkstoffe eingesetzt. Studien zeigen: Cannabis kann insbesondere bei neuropathischen Schmerzen, rheumatischen Erkrankungen und Krebsschmerzen eine relevante Linderung erzielen.
„Cannabis ist keine Wunderdroge, aber in der richtigen Dosis und Begleitung eine hilfreiche Option für viele ältere Patienten, die sonst kaum noch Alternativen haben“, erklärt Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl, Neurologin und eine der führenden Cannabisforscherinnen Deutschlands.
Evidenzlage: Was Studien sagen
Chronische und neuropathische Schmerzen
Metaanalysen von bis zu 32 randomisierten Studien zeigen moderate Belege für die Wirksamkeit von Cannabis bei chronischen Schmerzen, mit positiver Wirkung auf körperliche Funktionen und Schlaf.
In der palliativen Begleitstudie der DGS zeigte sich:
Bei fast 70 % der Patienten eine deutliche moderate Schmerzverbesserung; weniger als 2 % berichteten über Verschlechterung.
Opioideinsparung
Eine kanadische Studie mit 1 145 chronischen Schmerzpatient:innen ergab:
- Opioideinnahme sank von 28 % auf 11 %
- Morphinäquivalent-Dosis reduzierte sich um 78 %.
Auch in Deutschland zeigten ältere Patient:innen durchschnittlich um die 50 % reduzierte Opioiddosis bei gleichbleibender Schmerzaktivität.
Begleitmedikation reduzieren
Ein Beobachtungsbericht mit >1 100 Patient:innen dokumentierte signifikante Reduktionen von Begleitmedikamenten (NSAR, Antidepressiva, Benzodiazepine) in vielen Fällen – verbunden mit spürbarer Lebensqualitätssteigerung .
Medizinische Grundlagen und Wirkmechanismen
Cannabinoide wie THC und CBD wirken über das körpereigene Endocannabinoid-System, insbesondere über die Rezeptoren CB1 (im Zentralnervensystem) und CB2 (im Immunsystem). Sie beeinflussen die Schmerzverarbeitung, hemmen Entzündungen und modulieren Neurotransmitteraktivität.
In der Palliativmedizin wird diese Wirkung gezielt genutzt – nicht nur zur Schmerzreduktion, sondern auch zur Linderung von Übelkeit, Spastik und Angstgefühlen.
Ein Beispiel aus dem Alltag
Ullrich Ehnert, früherer Tischlermeister, litt jahrelang unter Hüft- und Rückenschmerzen. Nachdem klassische Analgetika versagt hatten, empfahl ihm sein Sohn Cannabis:
„Die Muskeln entspannen sich … und dann lassen die Schmerzen nach, bis sie ganz weg sind. … Du kannst dich wieder voll richtig bewegen … Das ist wunderbar.“
So zeigt sich ein häufiger Motivationspfad: Senioren greifen im Alltag auf Cannabis zurück, wenn konventionelle Verfahren versagen – oft ohne ärztliche Verordnung.
Zugang und Selbstmedikation
Auch der Zugang zur legalen medizinischen Cannabistherapie bleibt herausfordernd:
Ärzte müssen der Krankenkasse detailliert darlegen, dass andere Mittel ausgeschöpft sind und die Lebensqualität bereits stark beeinträchtigt ist, bevor sie Cannabis verschreiben dürfen.
Die Folge: Manche Senioren nutzen Cannabis auf eigene Faust oder über Selbsthilfegruppen wie Sozialclubs.
Typische Indikationen bei Senior\:innen
- Chronische neuropathische Schmerzen (z. B. Polyneuropathie, Rückenmarksbeschwerden)
- Spastiken bei Multipler Sklerose oder Parkinson
- Appetit- und Schlafstörungen, Angst, depressive Verstimmungen
- Palliativsituationen mit Übelkeit, Gewichtsverlust oder Tumor-assoziierten Beschwerden
Ein reales Fallbeispiel: Wolfgang H., langjährige Schmerzen plus Ängste, berichtet:
„Früher hab ich mich oft in meinem Zimmer verkrochen … Heute bin ich viel entspannter. … Cannabis hat mir mein Leben zurückgegeben.“
Senioren als neue Zielgruppe: Zwischen Offenheit und Skepsis
Eine aktuelle repräsentative Umfrage des Instituts Forsa im Auftrag der Techniker Krankenkasse zeigt: Immer mehr Menschen ab 65 Jahren sind offen für die therapeutische Anwendung von Cannabis. 62 Prozent befürworten die Möglichkeit der Verschreibung durch Ärztinnen und Ärzte. Besonders hoch ist das Interesse bei Patientinnen und Patienten mit chronischen Erkrankungen und bereits eingeschränkter Lebensqualität.
„Ich habe lange unter Rückenschmerzen gelitten und viele Medikamente nicht vertragen. Seit ich ein niedrig dosiertes Cannabisöl nutze, habe ich weniger Beschwerden und kann nachts wieder schlafen“, berichtet die 76-jährige Gerda L., eine ehemalige Krankenschwester aus Hannover.
Gleichzeitig herrscht in der älteren Generation oft Unsicherheit über Wirkweise, Nebenwirkungen und gesellschaftliche Stigmatisierung. Viele Seniorinnen und Senioren befürchten, als „Kiffer“ abgestempelt zu werden oder mit illegalem Konsum in Verbindung gebracht zu werden. Aufklärung und medizinische Begleitung sind daher entscheidend für den Therapieerfolg.
Therapieformen, Dosierung & Monitoring
Arzneiformen
Bevorzugt werden in der Geriatrie orale Präparate wie Dronabinol-Tropfen, CBD/THC-Extrakte oder das Sativex-Spray. Cannabisblüten werden selten genutzt – besonders wegen Dosierungsunsicherheit und inhalativer Risiken.
Dosierung nach dem Prinzip „Start low, go slow“
- Beginnen mit niedriger THC-Dosis (2–3 mg/Tag), langsam steigern
- Zielbereich oft 7–15 mg THC täglich, bei Bedarf bis zu 30 mg.
Begleitung und Beobachtung
- Dokumentation von Effekten und Nebenwirkungen durch Patient:innen-Tagebuch
- Regelmäßige Kontrolle der Multimedikation
- Engmaschige ärztliche Betreuung durch erfahrene Schmerztherapeut:innen
Risiken und Nebenwirkungen: Was bei Cannabis im Alter beachtet werden muss
Trotz positiver Erfahrungsberichte ist Cannabis kein ungefährliches Allheilmittel. Besonders bei älteren Menschen müssen mögliche Nebenwirkungen sorgfältig beobachtet werden. Dazu zählen:
- Schwindel und Gleichgewichtsstörungen – mit erhöhter Sturzgefahr
- Herz-Kreislauf-Reaktionen wie Blutdruckabfall oder Herzrasen
- Kognitive Beeinträchtigungen, insbesondere bei hohen THC-Dosen
- Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten
„Viele unserer älteren Patientinnen nehmen fünf oder mehr Arzneimittel gleichzeitig ein – da kann es zu unerwünschten Effekten kommen“, warnt Dr. Tobias Rausch, Schmerzmediziner in Frankfurt. Besonders bei demenziell veränderten Patienten sei Vorsicht geboten. Die richtige Dosierung und regelmäßige Kontrolle seien daher unverzichtbar.
Nutzen-Risiko-Abwägung
Potenzial zur Verbesserung
- Schmerzlinderung, verbesserter Schlaf und Stimmung, mehr Appetit
- Reduktion anderer Medikamente → weniger Nebenwirkungen, besseres tägliches Wohlbefinden
Risiken und Nebenwirkungen
- Häufig: Müdigkeit, Schwindel, Mundtrockenheit, gelegentl. Verwirrtheit oder psychische Effekte (besonders bei hohen Dosen)
- Fehlende langfristige Daten zu Abhängigkeit, kognitiven Effekten oder Organschäden
- Potente Wechselwirkungen, etwa mit Blutverdünnern oder Sedativa, müssen berücksichtigt werden
Einschränkungen der Evidenz
- Mangel an großangelegten, randomisiert-kontrollierten Studien speziell bei älteren Patient:innen
- Beobachtungsstudien und off-label Daten dominieren bislang die Datenlage
Hürden in der Praxis: Bürokratie und ärztliche Zurückhaltung
Obwohl die rechtlichen Grundlagen für eine Cannabisverordnung bestehen, bleibt die Versorgung in der Praxis oft schwierig. Viele Hausärzte scheuen die Verschreibung, da sie bürokratisch aufwendig und medizinisch umstritten ist. Die Genehmigung durch die Krankenkassen kann Wochen dauern, und nicht selten lehnen diese die Kostenübernahme trotz gesetzlicher Anspruchslage ab.
„Gerade ältere Patientinnen brauchen eine einfache, klare Kommunikation – statt sich durch Antragsformulare und Gutachten zu kämpfen“, kritisiert Ulrike Röhr, Vorsitzende des Vereins „Selbsthilfe Cannabis als Medizin“. Immer mehr Betroffene wenden sich daher an spezialisierte Cannabis-Ambulanzen oder Privatärzte, was jedoch mit erheblichen Zusatzkosten verbunden ist.
Politische Diskussion: Legalisierung und medizinische Versorgung
Mit der teilweisen Legalisierung von Cannabis zum Eigenanbau und in Anbauvereinigungen (seit April 2024) hat sich die öffentliche Debatte verschoben. Während die Freizeitnutzung nun entkriminalisiert wurde, bleibt die medizinische Versorgung weiterhin streng reglementiert. Kritiker werfen der Bundesregierung vor, die Bedürfnisse schwerkranker Patientinnen und Patienten nicht ausreichend zu berücksichtigen.
„Es darf nicht sein, dass Cannabis in der Freizeit legal konsumiert werden darf, aber Kassenpatienten in der Schmerztherapie weiterhin auf bürokratische Hürden stoßen“, mahnt die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS). Diese fordert eine Entbürokratisierung der medizinischen Verordnung, mehr Forschung und gezielte Schulungen für Ärztinnen und Ärzte.
Rechtlicher Hintergrund: Cannabis auf Rezept
Seit dem Inkrafttreten des „Cannabis-als-Medizin“-Gesetzes im März 2017 dürfen Ärztinnen und Ärzte in Deutschland medizinisches Cannabis auf Rezept verschreiben. Voraussetzung: Eine schwerwiegende Erkrankung, für die andere Therapien nicht ausreichend wirken oder mit zu starken Nebenwirkungen verbunden sind. Besonders häufig wird medizinisches Cannabis bei chronischen Schmerzen, Multipler Sklerose, Krebserkrankungen und Appetitlosigkeit im Alter verordnet.
Derzeit ist medizinisches Cannabis verschreibungsfähig in Form von getrockneten Blüten, Extrakten oder zugelassenen Fertigarzneimitteln wie Sativex oder Dronabinol. Die Kosten können unter bestimmten Bedingungen von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Laut einer Auswertung des Spitzenverbandes der Krankenkassen wurden im Jahr 2023 über 300.000 Verordnungen cannabisbasierter Arzneimittel ausgestellt – mit einem wachsenden Anteil älterer Patientinnen und Patienten.
Rechtlicher Rahmen in Deutschland
Seit März 2017 ist medizinisches Cannabis verschreibungs- und unter bestimmten Bedingungen kostenübernommen. Voraussetzung war damals ein Betäubungsmittelrezept (§ 3 BtMG) und strengere Zulassungskriterien.
Seit April 2024 gilt das neue Medizinal-Cannabisgesetz (MedCanG):
- Kein Betäubungsmittelrezept mehr erforderlich
- Ärzt:innen dürfen Cannabisblüten, Extrakte, Dronabinol und Nabilon verordnen.
Auch das Bundesinstitut für Arzneimittel (BfArM) meldet steigende Importmengen – laut Tagesschau bereits über 50 Tonnen im zweiten Halbjahr 2024, mit weiter steigender Tendenz im Frühjahr 2025.
Zukünftige Entwicklungen & Empfehlungspotenziale
Neue Präparate in der Pipeline
Ein vielversprechendes Cannabis-Vollspektrum-Extrakt namens VER‑01 könnte bereits im Juli 2025 in Deutschland zugelassen werden.
- Studiensergebnisse (Phase III mit n = 820 bei chronischen Rückenschmerzen): Schmerzreduktion von 6,1 auf 4,0 Punkte, Placebo auf 4,7
- Nebenwirkungen: unauffällig, ohne Anzeichen für Abhängigkeiten oder Fehlgebrauch
- Zusätzlich Verbesserungen bei Schlaf und Lebensqualität. Zulassung wird für Juli 2025 erwartet.
Empfehlungen für mehr Qualität
- Aufbau größerer RCTs speziell bei geriatrischen Patient:innen
- Leitlinienerweiterung, die Cannabis in multimodale Schmerztherapie einbindet
- Aus- und Weiterbildung für Ärzt:innen und Pflegepersonal im Umgang mit Cannabis bei Senior:innen
Beispielhafte Länder: Was wir von Kanada und Israel lernen können
In Ländern wie Kanada, Israel oder Teilen der USA gehört medizinisches Cannabis längst zur etablierten Schmerztherapie – auch im geriatrischen Bereich. In Israel erhalten rund 100.000 Menschen eine Cannabistherapie, davon ein Drittel über 65 Jahre alt. Die Anwendung erfolgt dort strukturiert, kontrolliert und begleitet durch spezialisierte Mediziner.
„In Kanada sehen wir eine hohe Akzeptanz unter Senioren, weil dort konsequent über Nutzen und Risiken aufgeklärt wird“, berichtet Dr. Daniel Fischer, ein deutsch-kanadischer Schmerztherapeut. Studien aus diesen Ländern belegen zudem eine signifikante Reduktion des Opioidgebrauchs – ein Nebeneffekt, der auch in Deutschland von wachsendem Interesse ist.
Cannabis als Option – aber nicht als Wundermittel
Cannabis kann für ältere Menschen mit chronischen Schmerzen eine sinnvolle Ergänzung zur konventionellen Schmerztherapie sein – vorausgesetzt, es wird ärztlich begleitet, individuell dosiert und verantwortungsvoll eingesetzt. Besonders dort, wo klassische Therapien scheitern oder nicht vertragen werden. Die erwähnten Vorteile reichen von Schmerzlinderung, besserem Schlaf, reduzierter Angst bis hin zu gesteigerter Lebensqualität. Gleichzeitig müssen Risiken und Unsicherheiten streng beachtet werden.
Die Evidenz ist vielversprechend, bleibt aber fragmentiert. Wesentliche Fortschritte erfordern groß angelegte, alterspezifische Studie sowie konsequentes Monitoring. Das neue Medizinal-Cannabisgesetz erleichtert den Zugang – aber die ethische Pflicht bleibt: Aufklärung, individuelle Therapieplanung und wissenschaftliche Begleitung sind essenziell.
Die derzeitige Versorgungslage zeigt jedoch deutlichen Reformbedarf: Zu viele Seniorinnen und Senioren scheitern an bürokratischen Hürden, fehlender ärztlicher Erfahrung oder gesellschaftlichen Vorurteilen.
Die alternde Gesellschaft und die Zunahme chronischer Erkrankungen machen es notwendig, auch alternative Therapieformen wie Cannabis ernsthaft und wissenschaftlich fundiert zu prüfen. Eine gerechtere Versorgung, niedrigschwelliger Zugang und transparente Aufklärung könnten dazu beitragen, dass Cannabis nicht zum Modetrend, sondern zur echten Hilfe im Alltag älterer Menschen wird.