Gesundes Altern? Die Leopoldina fordert: Alterskrankheiten verhindern statt nur behandeln

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Alternde Gesellschaft vor neuen Herausforderungen

Die Lebenserwartung steigt stetig – eine Errungenschaft moderner Medizin, besserer Lebensverhältnisse und wachsender Gesundheitskompetenz. In Deutschland liegt sie derzeit bei durchschnittlich 83 Jahren für Frauen und 78 Jahren für Männer. Doch diese demografische Entwicklung bringt auch Herausforderungen mit sich: Alterskrankheiten wie Diabetes Typ 2, Demenz, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Osteoporose nehmen rasant zu. Bis 2050 wird mehr als ein Drittel der Bevölkerung über 65 Jahre alt sein – mit erheblichen Folgen für das Gesundheitssystem.

Vor diesem Hintergrund fordern führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen grundlegenden Paradigmenwechsel: Weg von der rein kurativen Medizin – hin zu einer präventiv ausgerichteten Gesundheitsforschung und -versorgung. Angeführt wird dieser Appell von der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Ihr aktuelles Diskussionspapier betont die Notwendigkeit, Alterskrankheiten frühzeitig zu erkennen und möglichst zu verhindern. Es gehe nicht mehr nur darum, Symptome zu behandeln, sondern den Alterungsprozess selbst besser zu verstehen und gezielt zu beeinflussen.

Altern als lebenslanger Prozess

Altern wird oft als schleichender, unvermeidlicher Verfall begriffen. Doch diese Sichtweise greift zu kurz. Laut Professor Björn Schumacher, Alternsforscher an der Universität zu Köln, beginnt der Alterungsprozess bereits im frühen Erwachsenenalter – lange bevor klinische Symptome auftreten. „Altern ist ein lebenslanger Prozess. Veränderungen auf zellulärer und molekularer Ebene akkumulieren über Jahrzehnte hinweg und münden schließlich in altersassoziierte Erkrankungen“, erklärt Schumacher.

Die moderne Alternsforschung, auch Gerontobiologie genannt, widmet sich genau diesen biologischen Grundlagen. Forschende untersuchen unter anderem Telomerverkürzung, epigenetische Veränderungen, mitochondriale Dysfunktion oder fehlerhafte Zellreparaturmechanismen. Diese Erkenntnisse liefern Ansatzpunkte für neue präventive Strategien und therapeutische Interventionen, die über reine Symptombekämpfung hinausgehen.

Die Leopoldina fordert: Gesundheitsforschung neu ausrichten

Am 17. Juni 2025 hat die Leopoldina gemeinsam mit weiteren medizinischen Fachgesellschaften und Forschungsinstitutionen ein umfassendes Positionspapier veröffentlicht. Titel: „Gesundes Altern ermöglichen – Alterskrankheiten verhindern statt nur behandeln“. Die zentralen Forderungen: Altersforschung und medizinische Versorgung müssen konsequent auf Prävention ausgerichtet werden, und zwar mit interdisziplinären Ansätzen, die biologische, soziale und medizinische Perspektiven verbinden.

Statt altersbedingte Krankheiten wie Alzheimer oder Arthrose erst zu behandeln, wenn sie sich manifestieren, sollen Forschung und Praxis frühzeitig präventiv eingreifen – also dann, wenn die pathologischen Prozesse noch auf molekularer Ebene verlaufen und umkehrbar sind. Ziel sei es, die Gesundheitsspanne – also die Jahre ohne chronische Einschränkungen – zu verlängern, nicht nur die Lebensdauer an sich.

Empfehlungen: Forschungsverbünde, Biodatenbanken, Translation

Im Zentrum der Empfehlungen steht der Aufbau eines nationalen Forschungsverbundes zur Altersbiologie. Dieser soll durch eine bundesländerübergreifende Biodatenbank ergänzt werden, in der Daten aus Humanstudien, Modellorganismen und klinischen Versorgungsdaten zusammengeführt werden. So sollen beispielsweise Alterungsprozesse in verschiedenen Organen vergleichbar gemacht und biometrische Marker für individuelles Altern entwickelt werden.

Die Leopoldina fordert außerdem eine klare politische Zuständigkeit im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für Altersforschung sowie einheitliche ethische Rahmenbedingungen für Tierversuche. Denn viele vielversprechende Erkenntnisse basieren bisher auf Mausmodellen – ihre Übertragung auf den Menschen ist bislang lückenhaft.

Ein weiteres Anliegen: mehr translationale Forschung. Es geht darum, Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung schneller in die klinische Praxis zu überführen. Dafür braucht es nicht nur mehr Fördermittel, sondern auch spezialisierte Strukturen in der medizinischen Ausbildung und Versorgung.

Medikamente gegen das Altern? Erste Wirkstoffe in der Diskussion

Der Begriff „Geroprotektoren“ – also Medikamente, die gezielt gegen Alterungsprozesse wirken – gewinnt an Bedeutung. In der Diskussion stehen unter anderem Metformin, ein bewährtes Antidiabetikum, das in Tierversuchen auch Alterungsprozesse verlangsamt hat. Weitere Substanzen wie Rapamycin, NAD+-Vorstufen oder Senolytika (z.B. UBX0101) werden in klinischen Studien getestet. Sie sollen geschädigte Zellen entfernen, die zu Entzündungen und Gewebeschäden beitragen, sogenannte „seneszente Zellen“.

Professor Oliver Tüscher vom Leibniz-Institut für Resilienzforschung betont: „Wir brauchen belastbare Daten zu Wirksamkeit und Sicherheit solcher Substanzen beim Menschen. Doch die Potenziale sind immens – wir stehen an der Schwelle einer präventiven Pharmakologie des Alterns.“

Parallel dazu laufen Studien zur Entwicklung von Biomarkern, mit denen das biologische Alter von Organen präziser bestimmt werden kann. Diese könnten künftig dazu dienen, präventive Maßnahmen gezielt und personalisiert einzusetzen – also etwa Ernährungs- oder Bewegungsinterventionen, bevor erste Symptome auftreten.

Warum gerade jetzt gehandelt werden muss

Der Handlungsdruck ist enorm. Die Babyboomer-Generation erreicht das Rentenalter – mit wachsender Zahl chronischer Erkrankungen, Polypharmazie und Pflegebedarf. Schon heute leiden über 50 Prozent der Menschen über 65 an mindestens einer chronischen Erkrankung. Gleichzeitig geraten die Versorgungssysteme an ihre Grenzen: Hausarztpraxen sind überlastet, Pflegeeinrichtungen unterfinanziert, und der medizinische Nachwuchs knapp.

Hinzu kommt: Zwar ist die Lebenserwartung gestiegen, doch die sogenannte Gesundheitsspanne – also die Zeit ohne körperliche und geistige Einschränkungen – hat sich in den letzten Jahren kaum verlängert. Das bedeutet: Viele Menschen leben zwar länger, verbringen aber auch mehr Jahre mit Krankheit. Das belastet nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch Angehörige, Fachkräfte und die sozialen Sicherungssysteme.

Hürden auf dem Weg zur präventiven Altersmedizin

Die Umsetzung der Leopoldina-Forderungen erfordert tiefgreifende strukturelle Veränderungen. Dazu gehört eine Anpassung des Medizinforschungsgesetzes, um klinische Studien zu Geroprotektoren und Biomarkern zu erleichtern. Auch die Ausbildung von Medizinerinnen und Medizinern müsste stärker auf Prävention und Altersbiologie fokussiert werden.

Ein zentrales Hindernis bleibt jedoch das fehlende Bewusstsein – sowohl in der Gesellschaft als auch bei vielen Behandelnden. Altern wird vielfach als individuelles Schicksal betrachtet, nicht als beeinflussbarer Prozess. Dabei zeigen bereits heute Präventionsprogramme etwa zur Bewegung oder Ernährung signifikante Effekte auf die Gesundheit älterer Menschen.

Die Leopoldina schlägt deshalb vor, neue Anreize in der Versorgung zu schaffen – etwa durch die Integration von Präventionsleistungen in die Regelfinanzierung, gezielte Fortbildungen für Hausärzte und strukturierte Programme zur Früherkennung von biologischer Alterung.

Ein gesellschaftliches Projekt: Gesundes Altern als Zukunftsvision

Am Ende steht ein Appell: Gesundes Altern ist keine utopische Idee, sondern eine machbare Vision – vorausgesetzt, Politik, Wissenschaft und Versorgungssysteme handeln entschlossen. Es reicht nicht mehr, Alterskrankheiten lediglich zu lindern. Sie müssen verhindert werden, bevor sie entstehen. Prävention, Forschung und Innovation bilden dabei die drei Säulen einer nachhaltigen Gesundheitspolitik für das 21. Jahrhundert.

Die Leopoldina formuliert es klar: „Eine Gesundheitsversorgung, die Altern und seine Folgen als gestaltbaren Prozess begreift, kann das Leben von Millionen Menschen verbessern – und gleichzeitig die Systeme entlasten.“

Es ist an der Zeit, Altern neu zu denken – nicht als schicksalhaften Verfall, sondern als gestaltbare Lebensphase mit Chancen auf Gesundheit, Autonomie und Lebensfreude bis ins hohe Alter.

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